NUNC STANS / 180 x 300cm / Eitempera auf Kreidegrund / 2012

 

 

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Dimensionen des Malerischen im Werk von Iris Dostal

Die Arbeiten von Iris Dostal bewegen sich in einem Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sie einen konkreten Anfang bzw. ein Ende physischer und temporaler Wahrnehmung verwehren und raumübergreifende Fragestellungen als Grundbedingung künstlerischer Prozesshaftigkeit aufgreifen. Die Zweidimensionalität der Malerei wird aufgehoben und durch Abstraktionsmechanismen in die Dreidimensionalität des Raumes überführt, wobei sich Achsen überlagern und die Zuordenbarkeit eines eindeutigen Raumgefüges erschwert wird.

Die schwarze Kreidegrundierung der Arbeiten stellt einen Theorieraum als Grundlage zur Verfügung, der mit Eitempera bearbeitet wird und durch Einritzungen auch Schrift- und Wortteile erkennen lässt.

Das Eindringen in den Raum erfolgt durch eine Kippung der malerischen Oberfläche, wie etwa in der Arbeit o.T. aus der Serie Praxis ohne Namen, bei der die beiden Bildteile in einem Winkel von 90 Grad aufeinander treffen und eine neue räumliche Dimension entsteht. Die vorwiegend in dunklem Grau gehaltenen Hintergrundelemente der Bilder lassen schwarze und weiße Bildmomente wie plastische Einheiten aus den Arbeiten hervortreten, die neue räumliche Momente ermöglichen. Die Schattenwirkung der monochromen Farbelemente evoziert für BetrachterInnen eine ähnliche Vorstellungslogik wie für die ProtagonistInnen in Platons Höhlengleichnis. Lichtmomente von außen werden im dunklen Innenraum für kurze Zeit manifest und verschwinden ebenso schnell wieder. Dadurch wird die Dichotomie von Zeit und Raum aufgehoben und die Prozesshaftigkeit innerhalb des Bildraumes betont. Wie bei Platon lassen sich Momente des Realen nur erahnen, da diese lediglich durch die Schattenwirkung repräsentiert sind. Der Wunsch nach einer sogenann- ten realen Erkenntnis der Welt wird nicht erfüllt, jedoch werden Möglichkeitsräume eröffnet.

Zufälligkeit spielt in Dostals Arbeiten ebenso eine Rolle wie die Bestimmtheit und Intention über den bildnerischen Prozess. Fließende Farbe tritt ins Bildfeld; diese wird zwar von der Künstlerin dirigiert, kann jedoch nicht gänzlich beeinflusst werden, wodurch Zufall und Steuerung gleichermaßen eine Rolle spielen.
Eine zentrale schwarze, trapezartige Fläche, die aus der linken Bildmitte tritt, wirkt wie ein Eingang oder ein schwarzes abstraktes Loch, das als energetisches Zentrum des Diptychons gesehen werden kann. Darunter ist zu lesen: TOP NO SECTRET. Die evozierten Widersprüchlichkeiten dieser Aussage am unteren Malerei
- rand führt zu der Frage nach einer Verifizierung bzw. Falsifizierung des Beschriebenen in Relation zum vor- gefundenen Bildinhalt. BetrachterInnen werden aufgefordert, sich auf die Abstraktion der Arbeit einzulassen, deren Form gleichzeitig zum Bedeutungsträger wird und kein Richtig oder Falsch zulässt. Demnach kann weder ein Oben noch Unten dingfest gemacht werden, sondern nur prozessuale Bedingungen innerhalb der malerischen Raumerfahrung.

Gegensätze zwischen Geometrie, Struktur und Raum werden in Dostals Arbeiten aufgelöst und schließlich vereinigt. Dadurch ergibt sich eine Synchronizität des Dargestellten, die sich in Form einer Spiegelfalte im Bild manifestiert. Diese Komponente wurde auch im Ausstellungstitel NUNC STANS deutlich, in einem stehenden oder zeitlosen Jetzt. Dieses Jetzt ist der unendliche Male wiederholbare, mit jedem Mal neue Moment des Betrachtens oder Erblickens eines unveränderlichen Bildes, das in einem langen Entstehungsprozess auf diesen Moment hin produziert worden ist. Endprodukt des künstlerischen Prozesses ist nicht die Darstellung eines Moments der Wirklichkeit, einer Situation oder einer Sache, sondern der Moment des Erblickens. Das raumbezogene Ausstellen des Werkes evoziert in BetrachterInnen ein Erleben im Hier und Jetzt und wirft im weiteren die Frage nach dem Tatsächlichen auf, wann ein Gedanke zum eigentlichen Bestandteil unserer Realität wird.

Die Schichten der monochromen Flächenaufteilung fragen nach der Grenze zwischen Realität und Illusion, die in einer Durchlässigkeit und durchscheinenden Qualität (Diaphainon) gegeben ist. Die Sprachfragmente dienen folglich als Anknüpfungspunkte für einen malerischen Diskurs, der sich an Sprache annähern kann, diese aber bildlich nicht adäquat übertragen muss. Die Annäherung erfolgt schrittweise, so wie die Malerei weder als Standbild noch als filmische Sequenz gesehen werden kann. In dieser Hinsicht lässt sich Dostals Malerei wieder mit Platons Höhlensituation vergleichen, in der die Schatten als Einzelbilder aber auch als ephemere bewegliche Teile fungieren, die durch Sprache nicht repliziert werden können.

Die Verzerrung der räumlichen Darstellung erfolgt bei Dostals Eckbild auch in Ergänzung mit einem vier- teiligen Spiegelkreuz, das die Blickachsen im Raum zusätzlich bricht und neue Perspektiven auf die Ma- lerei eröffnet. Das Raum-Zeit-Kontinuum wird dadurch um eine weitere Dimension ergänzt, die nun auch die BetrachterInnen selbst in das Blickfeld integriert und die Schattenwirkung außen vor lässt. Gleichzeitig tritt jenes Moment der Performanz ins Spiel, das in einer rein malerischen Dimension auf der Ebene des Denkfeldes verankert bleiben würde. Die Prozesshaftigkeit als Konzept tritt dadurch ins Zentrum räumlicher Begebenheiten, deren Veränderung auf einer zeitlichen Achse beruht.

 

Walter Seidl 2012

 

 

 

 

Dimensions of the Painterly in Iris Dostal‘s Work

Iris Dostal‘s works move in a space-time continuum wherein they deny a specific beginning or end of physical and temporal perception and address questions concerning the artistic process -- questions overarching artistic spaces. Her work cancels out the two-dimensionality of painting, using abstraction mechanisms to make a transition into the third dimension, sharing shared axes and upsetting spatial orders.

Black gesso provide a space for theory and a base for egg tempera application displaying scratched-in fragments of characters and words.

Space is entered by tilting the painted surface, as is the case in the work NUNC STANS of the Praxis ohne Namen (Nameless Practice) series. In this work, two parts of an image meet at a 90-degree angle, creating a new, spatial dimen- sion. From dominantly dark-grey background areas, black and white elements emerge like three-dimensional objects, evoking new spatial moments. The shadow effects of monochrome elements produces an imaginary logic, similar to those described in Plato‘s cave simile. Light effects from the outside appear in the dark interior as quickly as they disappear, eliminating the dichotomy of space and time and stressing the procedural nature of the work within the image space. As in Plato‘s allegory, moments of reality, represented by mere shadows, can only be guessed at. The wish for „real“ cognition of the world is not fulfilled -- but spheres of possibility are opened up.

In Iris Dostal‘s work, in her artistic process, the accidental is as relevant as the intentional and the defined. Flowing paint enters the frame -- directed by the artist, but never fully controlled. Control and the lack of it equally play a role. A black central trapezoid area flowing from the left center of the canvas evokes an entrance or an abstract black hole; it could be seen as the energetic center of the diptych. Below it, a line reads: TOP NO SECRET. The suggested controversy of this statement near the bottom of the picture creates a need of verifying or falsifying the verbal message in relation to the image content, challenging the viewer to accept the abstract nature of a work which, formally, carries a meaning while defying a right-or-wrong verdict. Top or bottom cannot be decided, they remain procedural conditions within the painterly experience of space.

Opposites between geometry, structure and space are dissolved in Iris Dostal‘s work, and eventually synthesized, resulting in a synchronicity of all that is represented. Its manifestation is a mirror fold in the painting. This component also became explicit in the exhibition title NUNC STANS (Vienna Art Week, Gallery Kunst & Han- del), meaning a perpetual or timeless presence. This presence is the infinitely repeatable, yet ever new moment of viewing or seeing an unchangeable image which has been produced for this very moment in a long production process. The end point of an artistic process is not the completed representation of a moment in reality, of a situation or an object but the moment of viewing. Exhibiting the work in a specific space evokes in the viewer an experience of here and now and, consequently, raises the question of the factual: When does a thought become part of our reality?

The layers of the monochrome areal distribution raise the question where reality borders on illusion. This borderline is present in a transparent quality (diaphainon). Consequently, the verbal fragments serve as points of contact for a painterly discourse which can approach language without, necessarily, translating it, adequately, into visuals. The approach happens step by step, as a painting can neither be seen as a still nor as a filmic sequence. In this respect, Iris Dostal‘s painting may again be compared to Platon‘s cave situation where the shadows act both as individual images and as ephemeral moveable parts that cannot be replicated by language.

In Iris Dostal‘s corner picture, the distortion of spatial representation is complemented by a cross of mirrors placed nearby which achieves an additional fracturing of the room‘s viewing axes and offers new perspectives of the painting. This adds another dimension to the spacetime continuum which integrates the viewer into the field of view and excludes the shadow effect. Simultaneously, an element of performance is brought into play which, in a purely painterly dimension, would remain attached to the mental field. In this way, spatial events, developing a temporal axis, are centred around the concept‘s procedural nature.

 

Walter Seidl / 2012

Translation Klaus Feichtenberger